Martin Schulz hat recht, wenn er die Agenda 2010 ändern will.
Aber er sollte auch neue Ideen zulassen
VON MANFRED ALBERTI
Süddeutsche Zeitung MEINUNGSSEITE Samstag, 25. März 2017
Martin Schulz verspricht als SPD Kanzlerkandidat eine innenpolitische Zeitenwende: Abkehr von der vor allem wirtschaftsfreundlichen Agendapolitik hin zu einer mehr an den sozialen Bedürfnissen der Menschen ausgerichteten Innenpolitik. Das Ziel des Kandidaten heißt soziale Gerechtigkeit, die Schere zwischen Arm und Reich soll sich nicht weiter öffnen. Schulz kann, wie einst Willy Brandt, weit über die SPD hinaus Menschen mitreißen und begeistern. Neue Ziele schaffen neue Hoffnungen und eröffnen neueWege.
Aber dazu sind auch neue Ideen nötig. Minischritte helfen in dieser Situation nicht weiter. Was nützt zum Beispiel jemandem,der mit Mitte50 nach dreißig Arbeitsjahren arbeitslos geworden ist, eine zweijährige Umschulung, wenn der Arbeitsmarkt für 50-Jährige verschlossen ist und es gar keine Umschulungen gibt, die Erfolg versprechen? Das ist vertane Lebenszeit.
Natürlich gehören die meisten 50-Jährigen heutzutage nicht zum alten Eisen. Ihre Arbeitskraft, ihre Lebens- und Berufserfahrung, ihre Zuverlässigkeit und ihr Engagement würden in vielen Vereinen und in vielen sozialen Einrichtungen dringend gebraucht.
Warum können sie nicht bis zu ihrem Renteneintritt vertraglich geordnete Ehrenamtsarbeit leisten und dafür ArbeitslosengeldI bekommen? Sie übernehmen gesellschaftlich sehr nützliche Arbeiten und sind dafür einigermaßen sozial abgesichert. Statt eine nutzlose Fortbildung zu absolvieren, engagieren sie sich dort, wo es gesellschaftlich dringend nötig ist: der Buchhalter als Kassenwart im Verein, als Nachhilfelehrer in der Berufsschule, als begleitender Helfer in der überlasteten Schuldnerberatung; der Buchhändler informiert Lehrer und Erzieher über neueste Kinderliteratur, begeistert Kinder in der Nachmittagsbetreuung für das Lesen, baut neue Schulbibliotheken auf und betreut sie. Handwerker können in Vereinen und in der Flüchtlingsausbildung mit ihrem Wissen und Können viel Gutes tun, ohne bezahlte Arbeit auszustechen. Auch die Tafeln brauchen zuverlässige Helfer.
Zehn Jahre Ehrenamtsarbeit im Rahmen einer 75-Prozent-Vollzeitstelle gäben vielenMenschen nach 30 Jahren bezahlterArbeit bis zum Rentenbeginn eine sinnvolle Perspektive und bewahrten sie durch
das Arbeitslosengeld I vor der bei Hartz IV erzwungenen Armut.
Seit zwanzig Jahren ist der Arbeitsmarkt für Ältere jenseits der 50 so gut wie tot. Warum soll man weiterhin an der Illusion eines Weges zurück in die bezahlte Arbeit festhalten und viele Menschen damit täuschen und enttäuschen? Dann besser den Betroffenen die Perspektive eröffnen, durch ehrenamtlicheArbeit bei gesellschaftlichen Problemen durch ihr Können und ihr Engagement mitzuhelfen.
Sinnvoll sind für solche Ehrenamtsjahre aber nicht unqualifizierte Hilfsarbeiten wie bei vielen Ein-Euro-Jobs. Berufliche Erfahrungen wie qualifizierte Hobbytätigkeiten in Vereinen sollten als angemessene Grundlage für die ehrenamtliche Betätigung dienen.Warum nicht im eigenen Verein,in dem man sich bestens auskennt? Als Hallenordner, Kioskbetreiber, Geschäftsführer, Fanberater und als Ersatztrainer jederzeit den Jugendlichen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Für sinnvolles Engagement gibt es kaum Grenzen.
Selbst für die Organisation solcher Arbeit durch eine örtliche Ehrenamtsagentur wird es viele Menschen geben, die mit ihren beruflichen Erfahrungen ehrenamtlich solche Organisationsarbeit leisten können.
Nach zwanzig Jahren Illusionen über das Ziel bezahlter Arbeit bis zum Rentenbeginn ist es an der Zeit, umzudenken: Das dritte Drittel der Lebensarbeitszeit muss für viele Menschen neu geordnet werden: Als Ehrenamtsarbeitszeit, die durch das Arbeitslosengeld I wirtschaftlich abgesichert wird. Auch viele hochqualifizierte Arbeitslose aus leitenden Stellungen, die wirtschaftlich nicht auf Arbeitslosengeld angewiesen sind, wären mit über 50 heilfroh, wenn sie sich in offizielle Ehrenamtsarbeit einbinden und so der leidvoll empfundenen Leere ihres Leben entgehen könnten.
Nach Jahrzehnten bezahlter Arbeit zwischen 50 und 67 ist dasAngebot der Ehrenamtsarbeit, abgesichert durch ALG I, ein fairer Weg zu mehr sozialer Gerechtigkeit.
Ehrenamtsarbeit plus Arbeitslosengeld I wäre für viele Ältere eine Alternative.
Manfred Alberti, 68, war 35 Jahre Pfarrer in Wuppertal und ist jetzt in der Seniorenarbeit tätig.