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Erinnerung an eine heraufziehende Katastrophe

 

Erinnerungen an eine heraufziehende Katastrophe
 
Das Ende der Fernsehnachrichten um 23.00 Uhr war lange Zeit für mich der Startschuss für meinen Abendspaziergang. Vom Schliepershäuschen die Düsseldorfer Straße hinunter, über den Nützenberg bis zum Laurentiusplatz, dort ein Cappuccino im Glascafe getrunken und dann mit der letzten Straßenbahn gegen 0.30 Uhr oder mit dem letzten Bus zurück. Eine wunderbare Zeit, den Kopf frei zu bekommen, vergangene Ereignisse Revue passieren zu lassen, aber auch spontan neue Ideen für die kommenden Tage zu bekommen. Anderthalb Stunden freie Gedanken. 
Das war am Sonntag Abend, dem 11. April 1999, nicht anders. Oder nur ein wenig anders. An der Briller Straße sah ich die beleuchtete Baustelle der Schwebebahn über der Tannenbergstraße, wo an diesem Wochenende das Gerüstteil für den Neubau der Schwebebahn ausgetauscht worden war. Der Cappuccino musste nicht sein, also habe ich von der Kreuzung Robert-Daum-Platz aus den Arbeitern zugeschaut. Einer setzte sich gerade, offensichtlich ermüdet nach dem anstrengenden Austauschwochenende, in ein Gerüstteil, steckte sich eine Zigarette an und lehnte sich an den Stahlbalken. "Müssten wir Wuppertaler diesen Arbeitern nicht eigentlich viel dankbarer sein, die fast jedes Wochenende arbeiten, damit die Schwebebahn Montag morgens wieder fahren kann?" fuhr es mir so durch den Kopf und ich dachte an die vielen ärgerlichen Beschwerden in den Leserbriefspalten der Tageszeitung, warum das mit der Pünktlichkeit der Schwebebahn nach den Umbauten so oft nicht klappte. Aber Dankbarkeit ist ein seltenes Gut, wenn andere ihre Arbeit verrichten, für die sie bezahlt werden.  
Es war so gegen 0.15 Uhr, als ich plötzlich direkt von einem Lichtstrahl geblendet wurde.  Was war passiert? Ein Arbeiter hatte eine riesengroße Kugel mit einem Leuchtstrahl umgedreht, um einen anderen Teil des Gerüstes für die Weiterarbeit zu beleuchten. "Wie primitiv!" fuhr es mir durch den Kopf, "Könnte man nicht eine solche wichtige Baustelle großflächiger ausleuchten?" Aber dass noch zweihundert Meter weiter Krallen am Gerüst angebracht waren, habe ich in diesem Moment auch nicht bedacht. Sie wären auch bei einer anderen Beleuchtung sicherlich außerhalb der Sichtweite gewesen.
Warum man für die Baustelle Krallen brauchte, war mit durchaus bewusst. Die fertig vernieteten meterhohen Bauteile mussten ganz präzise von Kränen von oben zwischen die anderen Teile des Gerüstes hineingesenkt werden. Da gab es nur einen Spielraum von wenigen Millimetern. Um diesen Spielraum wenigstens etwas zu vergrößern, hat man Krallen an den angrenzenden Gerüstteilen angebracht und damit diese Gerüstteile um die wenigen Zentimeter Spiel auseinandergezogen, die das Stahlgerüst für den Ausgleich von Hitze und Kälte brauchte. Nur so war das Einfügen eines neuen Gerüstteiles zwischen die anderen überhaupt möglich. 
Aber an diese Krallen habe ich in diesem Moment nicht gedacht. Ich wünschte im Geiste den Arbeitern nur, dass sie bald fertig sein würden. Da mein letzter Bus zurück zum Schliepershäuschen gleich um 0.30 Uhr kommen würde, ging ich zur Haltestelle und fuhr mit einem letzten Blick auf die Baustelle nach Hause. 
Was für eine Katastrophe geschah fünf Stunden später! Unfassbar, diese Schwebebahn, das sicherste Verkehrsmittel der Welt. Bis heute! Und nun: Abgestürzt! Und mehrere Tote. 
Erst einige Zeit später konnte man sich das Drama mit der übersehenen Kralle zusammenreimen. Und als ich das richtig verstand, was geschehen war, lief es mir kalt den Rücken herunter. Die Schwebebahn war abgestürzt, weil eine Kralle das Fahrgestell von den Rädern gerissen hatte und so die Bahn in die Wupper stürzte. 
Plötzlich wurde mir bewusst, welches riesige Geschenk unser Sohn und unsere Familie einige Jahre vorher bekommen hatten. Am 28. Juli 1992 war unser Sohn zusammen mit 70 anderen Fahrgästen mit der Feuerwehrleiter aus der Schwebebahn an der Sonnborner Straße evakuiert worden. Da hatte man nach einer der regelmäßigen Kontrolluntersuchungen der Wendeschleife kurz hinter der Station Stadion-Zoo vergessen, die Bolzen wieder einzuziehen, die beim Wenden der Bahn das Herunterrollen von der Schiene verhindern sollten. Glücklicherweise war die dann kommende erste Bahn, in der unser Sohn saß, wohl noch recht langsam gefahren und hat den Bolzen nur umgebogen und sich festgefahren. Sie ist nicht abgestürzt wie die schnellere Bahn am Robert-Daum-Platz. So konnten wir von der Evakuierung durch die Feuerwehr noch als Abenteuer am letzten Schultag vor den Ferien erzählen.  
Einige Jahre später war es bitterer Ernst und ich habe erst dann richtig verstanden, was für ein riesengroßes Glück unser Sohn und wir 1992 hatten.
Und wenn ich das jetzt 2024 aufschreibe, bekomme ich immer noch eine Gänsehaut. Aber fünf Familien müssen an ihre verstorbenen Angehörigen denken. 
 
Manfred Alberti
manfredalberti@hotmail.com
 

Kommentar in wtotal 15.04.2024

 

 

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