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Isolde Karle: Zwölf Thesen zur Kirchenreform

 

1. Die evangelische Kirche ist
von unten, von den Gemeinden her aufgebaut. Sie hat eine föderale Struktur und
wird synodal-demokratisch geleitet. Als Kirche der Freiheit und Kirche der
Vielfalt ist ihr eine hierarchische, einheitliche, autoritäre Struktur fremd.
Prinzipiell haben alle Christen teil am Lehr- und Leitungsamt der Kirche.
Tendenzen innerhalb der EKD und mancher Kirchenleitungen, die Kirche von oben
her, top down, zu steuern, widersprechen dem Wesen des Protestantismus.
Evangelische Kirchenleitung ist herausgefordert von oben von unten her zu
denken. Reformvorschläge der Kirchenleitung müssen deshalb dem offenen Diskurs
ausgesetzt werden und können nur gelingen, wenn sie von einer breiten Basis
unterstützt, mitgetragen und befürwortet werden.

 

2. Die evangelische Kirche wächst
aus den Gemeinden, den lokalen Zusammenschlüssen von Christinnen und Christen.
Kleinere Einheiten kommen im Gegensatz zu größeren Einheiten mit wenig
bürokratischer Kontrolle aus, weil die persönliche Bekanntschaft und der überschaubare
Rahmen eine starke Vertrauensbasis schaffen. Die Vertrautheit von Orten und Personen
hat eine kaum zu überschätzende Funktion für die Vermittlung elementarer Grundsicherheit.
Die Bedeutung solcher Grundsicherheit nimmt mit der Anonymität und Mobilität
der Gesellschaft eher zu statt ab.

 

3. Für die Kirchlichkeit des
Protestantismus ist Gemeindereligiosität unverzichtbar. In den Gemeinden ringen
nicht nur theologische Experten, sondern Menschen aus unterschiedlichsten
Berufsgruppen und Milieus darum, wie Kirche gestaltet werden soll. Hier gewinnt
Kirche Kontur und Anschaulichkeit. Hier werden lebenslange Loyalitäten und
Bindungen geschaffen, die für die Stabilisierung der Kirchenmitgliedschaft und
die Bereitschaft, die Kirche finanziell zu tragen und zu unterstützen,
essentiell sind.

 

4. Der Pfarrberuf ist
Schlüsselberuf für die evangelische Kirche. Eine Pastorin kann die enorme
Vielfalt und Komplexität ihrer Aufgaben nur dann bewältigen, wenn sie das
Vertrauen der Menschen genießt und weitgehend autonom entscheiden kann, ob,
wann und wie gehandelt werden soll. Neben den überprüfbaren theologischen
Kompetenzen eines Pastors sind deshalb Glaubwürdigkeit, Charisma, Intuition und
die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, entscheidend für den Pfarrberuf
als Profession.

 

5. Die Kirche ist auf intrinsisch
motivierte Pastorinnen/Pastoren und Mitarbeiterin-nen/Mitarbeiter angewiesen.
Intrinsische Motivation lässt sich von außen nicht erzeugen, wohl aber
beeinträchtigen und zerstören. Nicht-Zutrauen ist eine wesentliche Ursache für
Demotivation. Geht die Identifikation mit der Sache verloren, weil das
planvolle Erfüllen von Zielvereinbarungen in den Vordergrund rückt, führt das
zur Ent-Identifikation und Demotivation. Wichtiger als jedes Reformprogramm ist
es, die Attraktivität des Pfarrberufs zu fördern, damit auch künftig
theologisch qualifizierter Nachwuchs gewonnen werden kann.

 

6. Das Grundproblem vieler Kirchenreformprogramme
ist, dass sie zuviel Steuerbarkeit und Planbarkeit unterstellen, dass sie
Prozesse organisieren wollen, die sich nicht organisieren lassen. Die Kirche
manövriert sich dadurch in einen Aktivismus hinein, der große Frustrationen
hervorrufen und die kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erschöpfen,
auslaugen und überfordern wird. Die Organisation Kirche ist herausgefordert,
die Rahmenbedingungen einer nicht zentralistischen Kirche so zu verbessern,
dass die Wahrscheinlichkeit interaktiver Begegnungen und informeller
Beziehungen steigt und Menschen sich gern in ihr und für sie engagieren.

 

7. Der Glaube kann nicht gekauft
werden wie ein Produkt. Menschen entscheiden sich nicht nach Belieben für oder
gegen den Glauben. Es ist insofern unwahrscheinlich, dass insbesondere
distanzierte Kirchenmitglieder religiöse Angebote an weit entlegenen Orten
wahrnehmen und für sich beanspruchen. Es bedarf in der funktional
differenzierten Gesellschaft starker Zentren und überregionaler Angebote und
Vernetzungen, aber diese dürfen nicht gegen die Gemeindekirche ausgespielt
werden. In der Regel entwickeln sich religiöses Interesse und religiöse
Identität über das selbstverständliche »Mitlaufen« in familiärer und
kirchlicher Sozialisation, nicht über eine spontan getroffene Entscheidung.

 

8. In der Vielfalt ihrer
Lebensformen ist die Familie die grundlegende und nachhaltigste Sozialisationsinstanz.
Der Einfluss der Eltern und Großelternpersonen ist für die Kirchenbindung der
allermeisten Menschen entscheidend. Zugleich ist die Familie gerade in
religiöser Hinsicht auf Unterstützung angewiesen. Da die Erziehung von Kindern
und Jugendlichen vornehmlich lokal orientiert ist, haben die Kirchengemeinden
(neben dem Religionsunterricht an

Schulen) hier eine zentrale
Aufgabe . Eine Kirche, die gegen den Trend wachsen will, findet in diesem
Bereich am ehesten Anknüpfungspunkte.

 

9. Kirchengebäude gehen in ihrer
Bedeutung über ihre unmittelbare Funktion, Versammlungsort für Christinnen und
Christen zu sein, weit hinaus. Als sakrale Orte erinnern sie an existentielle
Fragen der Religion. Sie sind exemplarische Orte der Präsenz Gottes in der
Welt. Citykirchen sind Orte der kulturellen, Lokalkirchen vor allem Orte der
biographischen Erinnerung. Kirchen symbolisieren in ihrer Stetigkeit und
äußerlichen Invarianz die Unverfügbarkeit individueller und kollektiver
Daseinsbedingungen.

 

10. Die mediale Präsenz der
Kirche ist in der Mediengesellschaft von großer Bedeutung im Hinblick auf das
Image und die gesellschaftliche Einflussmöglichkeiten der Kirche. Gleichwohl
sind die lokalen Öffentlichkeiten nicht zu vernachlässigen. Sie sind sowohl
zivilgesellschaftlich als auch für die gelebte Kirchlichkeit zentral und stellen
überdies ein wichtiges Korrektiv der Massenmedien mit ihrer Neigung zur
Simplifizierung und zum Alarmismus dar. Reale Begegnungen und reale Räume
behalten auch in Zeiten fortschreitender Virtualisierung der Gesellschaft eine
hohe Bedeutung. Die Kirche lebt in ihren grundlegenden Vollzügen von
leiblicher, verletzlicher, auf den Nächsten bezogener Kommunikation.

 

11. Durch die Ökonomisierung der Kirche entsteht eine
Eigendynamik der Organisation, die sich theologischen Beurteilungskriterien
mehr und mehr entzieht. An die Stelle theologischer Steuerung tritt immer
stärker eine managementförmige Steuerung. Theologie wird zur legitimierenden
Zweitcodierung. Für die Kirche der Zukunft ist es unabdingbar, dass sie wieder
zu einem eigenen theologischen Selbstverständnis findet, dass sie religiös
sprachfähig ist und sich als Organisation nicht von den Zwängen ökonomischer
Logik fremdbestimmen lässt. Die Kirche ist Teil der Gesellschaft und zugleich
Gegenhorizont zu einer durchrationalisierten, leistungsorientierten Welt. Sie
symbolisiert das Unverfügbare, nicht Mess- und Berechenbare und darin das
Angewiesensein auf Gottes Güte, Gnade und Erbarmen.

 

12. Die eigentliche Krise der
Kirche ist nicht eine Finanz-, sondern eine theologische Orientierungskrise.
Was hat die Kirche Menschen in der modernen Gesellschaft zu sagen? Wie lässt
sich theologisch substantiell und zugleich existentiell relevant von Gott
reden, von Kreuz und Auferstehung, von Sünde und Vergebung, von Gnade, Liebe
und Gerechtigkeit? Wie beheimaten sich Menschen im christlichen Glauben? Hier
liegt die eigentliche Herausforderung, der sich Theologie und Kirche stellen
müssen.

 

            Quelle:
Isolde Karle, Kirche im Reformstress, Gütersloh 2010, S. 256ff

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