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„Mehr Demokratie“: Ein zerstörerischer Irrweg?

 

Die drei vergangenen Bundestagswahlen hatten die geringste Wahlbeteiligung seit Gründung der Bundesrepublik. Um dem abnehmenden Interesse und der Nichtteilnahme ganzer Bevölkerungsgruppen entgegenzuwirken, wird momentan mit großer Medienresonanz eine alte Form der Bürgerbeteiligung ins Spiel gebracht: die „aleatorische Demokratie“.1

 

Hierbei werden zwischen 25 und 200 Bürger nach repräsentativen Kriterien per Losverfahren ausgewählt, um über bestimmte Projekte oder allgemeine politische Fragen zu beraten und diese zu beurteilen. Diese kommen als „Bürgerrat“ zu mehreren Veranstaltungen zusammen. Dort werden sie von Experten über die wichtigsten Sachverhalte informiert und diskutieren einige Tage lang in unterschiedlichen Zusammensetzungen. Dann sollen sie stellvertretend für die gesamte Bürgerschaft ein Mehrheitsvotum zu diesem Projekt oder dieser Frage beschließen und den Politikern das Ergebnis in der Form eines sogenannte „Bürgergutachtens“ als Entscheidungsvorlage an die Hand geben.2

Organisationen wie der Verein Mehr Demokratie e.V. fordern, dass "Bürgerräte" und von ihnen erstellte „Bürgergutachten“ Einfluss auf politische Entscheidungen bekommen. Parlamente und Regierungen sollten sich dabei verpflichten oder verpflichtet werden, die Entscheidungen von Bürgerräten in Ausschuss- oder Plenardebatten zu behandeln.3

 

Das Drängen der „Mehr-Demokratie-Bewegung“ zielt auf eine parlamentarische Entscheidung zur Einführung von Bürgerräten sowie zusätzlich bundesweiten Volksentscheiden noch in dieser Legislaturperiode, wie Mehr Demokratie e.V. bereits im Jahr 2018 schrieb: „Wenn wir es jetzt schaffen, gute Instrumente der Bürgerbeteiligung und Volksabstimmung auf Bundesebene zu etablieren,

können wir Themen [...] mit viel mehr Nachdruck in die Bundespolitik einbringen als bisher.“4 Bei Volksentscheiden wähnen sie sich schon fast am Ziel: „Wir haben jetzt zum ersten Mal eine realistische Chance, im Bundestag in den nächsten vier Jahren eine 2/3-Mehrheit für Volksentscheide zu erreichen.“5

 

In mehreren Modellprojekten wurden bereits Bürgerräte ausprobiert, z.B. im Jahr 2016 bei dem Vorhaben, in Wuppertal eine Seilbahn von der Innenstadt auf die südlichen Höhenzüge zu bauen.6 Mehr Demokratie e.V. veranstaltete im Jahr 2019, finanziert von der Schöpflin- und der Mercator-Stiftung, in Leipzig einen „Bürgerrat Demokratie“,7 dessen Ergebnisse zum „Tag der Demokratie“ am 15. November 2019 dem Bundestagspräsidenten Dr. Wolfgang Schäuble und Vertretern der Parteien übergeben wurden. Auf Anregung des Ältestenrates des Bundestages wird 2020/2021 ebenfalls durch einen losbasierten, rund 160-köpfigen Bürgerrat ein Modellprojekt zum Thema „Deutschlands Rolle in der Welt“ durchgeführt.8

 

Auch wenn in viele Medienberichten solche Projekte aleatorischer Demokratie als Zukunftschance der Demokratie gelobt werden,9 treten bereits in den Modellprojekten wichtige Schwachpunkte offen zutage.

 

Überforderte Laien als verantwortliche Pseudoexperten

Die ausgelosten, oft politikfernen Bürger sollen nach wenigen Tagen der Informationsvermittlung und Diskussionen zu teils sehr komplexen Projekten Stellung nehmen. Schon für etablierte Politiker wäre dies eine Herausforderung, für Laien dürfte es eine Überforderung darstellen. Im Leipziger „Bürgerrat Demokratie“ im Jahr 2019 wurden zumeist vorher politisch nicht aktive Bürger nach ihrer Meinung zu Vorschlägen für eine Demokratieverbesserung gefragt – nach lediglich zwei

Informationswochenenden. Für die meisten Vorschläge stimmten die 157 Teilnehmer nahezu einvernehmlich.10

 

Fast ohne Gegenstimmen wurden beispielsweise die Vorschläge angenommen, dass die parlamentarisch-repräsentative Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie ergänzt werden soll, dass bundesweite Bürgerräte durch die Bevölkerung, durch Parlamente oder durch die Regierung einberufen werden können und dass die Mitglieder eines solchen Bürgerrates zufällig ausgewählt werden und die Gesellschaft möglichst repräsentativ widerspiegeln sollen.

Bei solchen Mehrheitsergebnissen stellt sich die Frage, warum solche Vorschläge nicht längst realisiert worden sind, wenn sie so auf der Hand liegen? Oder sind diese Ideen doch nicht hundertprozentig überzeugend und in der Informationsphase waren schlicht kritische Argumente kaum vertreten? Könnten solche Bürgerräte eine Demokratie auch zum Schlechteren verändern, wenn z.B. mächtige Interessengruppen sich der Einflussmöglichkeiten von Bürgerräten zu ihrem eigenen Nutzen bedienen?

 

Politiker, Wissenschaftler, Parteimitglieder und engagierte Bürger könnten aus profunder Sachkunde eine Vielzahl substanzieller Verbesserungen der demokratischen Prozesse vorschlagen, wenn sie danach gefragt würden. Zufällig ausgewählte Bürger, „von denen sich viele zum ersten Mal mit dem Thema auseinandergesetzt haben“11, sind bei solchen Fragen allerdings kaum als geeignete Ratgeber zu erachten. Können diese nicht im Grunde nur das wiedergeben, was ihnen in wenigen Stunden Experten erzählt und nahegelegt haben? Im Leipziger Bürgerrat Demokratie zumindest wurde jeder der 22 Diskussionspunkte im Sinne der Initiatoren entschieden.12

 

Informationsphasen als Mittel der Beeinflussung

Wesentliches Element des Bürgerratskonzeptes sind die Informationsphasen. Insbesondere bei konkreten Projekten wie Bauvorhaben können die juristischen, stadtplanerischen und wirtschaftlichen Aspekte von Außenstehenden kaum überblickt werden.

Für die zufällig ausgelosten Bürger sollen aber ein paar Informationstage ausreichen – so die Idee – um sie in den Stand zu versetzen, ein alle Aspekte berücksichtigendes Urteil zu bilden. Schließlich soll ihr Beschluss als die auf fundierten Informationen und ausführlichen Diskussionen beruhende „repräsentative Bürgermeinung“ in den politischen Entscheidungsprozess einfließen.

 

Es kann davon ausgegangen werden, dass das Wissen und die Meinungen, welche die Bürger mit in diese Tagungen des Bürgerrates bringen, kaum eine Rolle spielen. Erst die Informationen durch ausgewählte Experten und die anschließenden Diskussionen sollen ihre Meinungsbildung prägen. Diese Informationsphasen nehmen damit eine Schlüsselstellung in dem Konzept Bürgerrat ein. Es lohnt sich daher, sie genauer zu betrachten.

 

Ausgerichtet werden diese Veranstaltungen von einem durch den Projektträger ausgesuchten und finanzierten Institut. Die ausgelosten Bürger bekommen Fahrtkosten und Hotelaufenthalte bezahlt, ihr Verdienstausfall wird ersetzt, ihnen wird eine Kinderbetreuung angeboten und sie erhalten jeweils mehrere hundert Euro Aufwandsentschädigung. Die Veranstalter tun vieles, dass sich die Bürger stolz als „Repräsentanten der Bevölkerung“ fühlen können. So wird eine besondere und keineswegs neutrale Atmosphäre geschaffen, in der die Bürger aufgefordert sind, im Namen und im Interesse der Gesamtbürgerschaft über das Wohl und Wehe von Projekten zu befinden.

 

Bei diesen Informationsphasen müssen allerdings schon aus Gründen der Glaubwürdigkeit auch kritische Aspekte zu Wort kommen. Wieviel Raum diesen aber eingeräumt wird, obliegt dem organisierenden Institut. Eine kritische Bürgerinitiative bekommt dann gegebenenfalls die gleiche Redezeit wie ein Professor für seine baurechtlichen Erörterungen. Während den Betroffenen und kritischen Bürgerinitiativen teilweise nur eine geringe Vortragszeit zugestanden wird – beispielsweise lediglich 20 Minuten im Rahmen der Seilbahnplanungen in Wuppertal im Jahr 2016 13 – lässt sich die Anzahl und Länge der Vorträge von ausgesuchten Gutachtern, Professoren und anderen Experten nach Belieben erhöhen. Denn ob und in welcher Tiefe ein Thema erörtert wird, liegt in der Entscheidung der Institute.

 

Nicht nur die Gestaltung der Informationsphasen alleine durch das beauftragte Institut lässt sich als problematisches Element bei dem Konzept der Bürgerräte ansehen, auch durch die Formulierung der

Fragestellungen, über die beraten und beschlossen werden soll, lässt sich die Diskussion in Richtung gewünschter Ergebnisse lenken.

Welche untergründig wirkende Kraft in scheinbar neutralen Fragestellungen liegt, lässt sich an dem vom Ältestenrat des Bundestages initiierten Musterprojekt "Bürgerrat – Deutschlands Rolle in der Welt" aufzeigen.

 

Nach vielen Vorarbeiten durch Befragungen der Bundestagsfraktionen, von Experten und kleineren Bürgergruppen wurden vier Fragestellungen herausgearbeitet, mit denen sich einige ausgeloste Bürger in der ersten Phase des Bürgerrates im Oktober 2020 beschäftigen sollten:

"1) Wie wird Deutschland in der Welt wahrgenommen? Und wie wollen wir als Deutsche wahrgenommen werden?

2) Welche Interessen verfolgt Deutschland in der Welt? Und sehen Sie Konflikte zwischen unseren Interessen und Werten?

3) Was hat Deutschland erreicht? Und worauf können wir als Menschen, die in Deutschland leben, stolz sein?

4) Hat Deutschland eine besondere historische Verantwortung?"14

 

Die Einseitigkeit dieser Fragestellungen wird dann sehr deutlich, wenn der dritten Frage "Worauf können wir stolz sein?" einmal die Gegenfrage "Wofür sollten wir uns schämen?" gegenübergestellt wird. Durch eine solche Frage würde eine ganz andere Seite des Deutschlandbildes im Ausland und auch des eigenen Deutschlandbildes gezeigt werden.

Beispielsweise angesichts der Verärgerung von Italien, Griechenland und Spanien darüber, dass durch die Dublin-Verordnung die Mittelmeeranrainerstaaten mit dem Flüchtlingsproblem aus ihrer Sicht ohne ausreichende Solidarität der anderen Länder weitgehend alleine gelassen werden, angesichts des seit Jahren nicht abgebauten hohen Handelsüberschusses, angesichts der seit Jahrzehnten ungelösten Armutsproblematik in der Dritten Welt, angesichts des im Ausland empfundenen Egoismus der deutschen Politik und des Hangs zur Lehrmeisterei gibt es durchaus viele Punkte, bei denen Deutschland im Ausland in der Kritik steht und die beim Deutschlandbild aus Sicht des Auslands berücksichtigt werden sollten.

 

Doch die den ersten Bürgerratsteilnehmern vorgegebenen Fragestellungen zielen eher darauf hin, die positiven Seiten von Deutschlands Rolle in der Welt zu betonen, und sie laden dazu ein, diese Seiten zu stärken. Der öffentliche und mediale Diskurs wird ein Stückchen weiter in diese Richtung verschoben.

 

Eine solche Vorgehensweise erweckt den Eindruck, dass es nicht im Interesse der Organisatoren und ausführenden Institute liegt, diese kritische Sichtweise gleichberechtigt mit zu diskutieren und so eine neutrale und überparteiliche Herangehensweise an ein Projekt zu gewährleisten. Wenn schon bei einem vom Ältestenrat des Bundestages angestoßenen Musterprojekt Fragen einseitig formuliert werden und auch die wissenschaftliche Begleitung15 nicht korrigierend eingreift, dann ist Skepsis geboten, was die Neutralität von Informationen und Fragestellungen bei Bürgerräten auf lokaler Ebene betrifft.

 

Ein blindes Vertrauen darauf, dass die beauftragten Institute solche Bürgerräte neutral und objektiv gestalten, ist angesichts des Verhältnisses der Institute zu ihren sie bezahlenden Auftraggebern nicht angebracht.

 

Wenn Objektivität und Neutralität erwünschte Grundlagen von Bürgerräten sein sollten, dann müssten die ganzen Informationsphasen bei Bürgerräten von vorneherein gleichberechtigt von Befürwortern und Projektkritikern geplant werden können. Auch die Informationsteile müssten ausgewogen aufgeteilt sein. Jedem Expertenvortrag müsste eine kritische Replik folgen, damit Laien die vorgetragenen Sachverhalte einordnen können. Zudem müssten in allen Phasen dieser Informationsblöcke den Bürgern professionelle Befürworter und Gegner des geplanten Projektes als begleitende Diskussionspartner zur Verfügung stehen. In dem Konzept von Mehr Demokratie e.V. ist das nicht vorgesehen. Die Institute haben es sehr leicht in der Hand, die Meinungen der Bürger in die gewünschte Richtung zu lenken. Selbst politisch gebildete Bürger dürften oft nicht in der Lage sein, die Ausführungen beispielsweise von technischen Sachverständigen an Ort und Stelle kritisch zu hinterfragen.

 

Hier wird sehr deutlich, welche letztlich unbedeutende Rolle die losbasierte Auswahl der Teilnehmer spielt. Es ist egal, welche Bürger als Teilnehmer ausgewählt werden. Wenn auf der einen Seite professionelle Experten einer Anzahl Laien auf der anderen Seite gegenübersitzen, dann haben die Laien keine Chance, sich mit einer anderen Meinung gegenüber den Experten durchzusetzen. Ob die ausgelosten Laien ein repräsentatives Bild der Bevölkerung darstellen, ist demnach eine uninteressante Frage. Jegliche Auseinandersetzung über das Prozedere der Losauswahl bei der aleatorischen Demokratie führt nur von der Diskussion der zentralen Schwächen dieses Politikansatzes weg.

 

Bürgerräte als Mittel zur Einhegung bürgerschaftlichen Protests

Die Installierung von Bürgerräten hat die Zerstörung bürgerschaftlicher Mitwirkungsmöglichkeiten, also der Demokratie, an noch einem ganz anderen Punkt zur Folge: bei den Bürgerinitiativen.  Demokratisches Engagement der Bürger besteht nicht nur aus der Teilnahme an Wahlen alle paar Jahre, sondern zu einem erheblichen Teil während der Parlamentsperioden auch aus der aktiven Beeinflussung der Meinungsbildung der politischen Entscheidungsträger durch persönliche Schreiben, Leserbriefe und Bürgerinitiativen.

 

In diesem Konzept von Bürgerräten und Bürgergutachten fallen die Interessen von Betroffenen und Minderheiten weitgehend unter den Tisch. Nicht nur, dass ihre Stimmen unter all den Expertenvorträgen untergehen, auch ist es unwahrscheinlich, dass ein von einem Projekt persönlich Betroffener bei etwa 150 Plätzen als Teilnehmer des Bürgerrates ausgelost wird. Aber selbst als Teilnehmer hätte ein einzelner Betroffener ohne politische Erfahrungen keine Chance, gegen die Interessen der Veranstalter die Mehrheit der Teilnehmer auf seine Seite zu ziehen.

 

Zudem fehlt in einem Diskussionsprozess, der als Ergebnis des Bürgergutachtens Gewinner und Verlierer hervorbringen wird und an dem nur neutrale Unbeteiligte teilnehmen, etwas Wichtiges für den Diskurs: Es fehlen die engagierten und lautstarken Akteure auf beiden Seiten. Eine oberflächliche Einigkeit ist vorprogrammiert.

 

An dem Ergebnis des Leipziger „Bürgerrates Demokratie" aus dem Jahr 2019 lässt sich dessen Bedeutung beobachten: Was sind solche oftmals über 90-prozentigen Mehrheitsvoten16 wert, wenn ihnen nicht eine einzige Begründung beigefügt wird, ganz zu schweigen von einer umfassenden und transparenten Dokumentation ihres Zustandekommens, einschließlich der Minderheitenpositionen?

 

Die vielleicht bedeutendste zu kritisierende Konsequenz der Einführung von Bürgerräten ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen, aber sie zielt darauf, das politische Geschehen vor allem auf kommunaler Ebene grundlegend zu verändern:

 

Mit der Einführung von Bürgerräten, deren Entscheidung als endgültiges

Votum einer aufgeklärten Bürgerschaft gelten würde, wären betroffene Bürger und Bürgerinitiativen eines großen Teils ihrer Einflussmöglichkeiten beraubt.

 

Kompetente und engagierte Bürgerinitiativen tragen durch ihre kritische Einmischung im Interesse der Betroffenen und anderer Bürger häufig zur Verbesserung von Projekten oder zu ihrer schnellen Beendigung bei. Diese lautstarken und einflussreichen Stimmen der Bürgerinitiativen würden beim Treffen des Bürgerrates reduziert auf ein einziges Votum, das unter vielen anderen leicht untergeht.17 An die Stelle einer lange andauernden, kompetenten und engagierten öffentlichen Auseinandersetzung auf Augenhöhe von Projektinitiatoren und Bürgerinitiativen träte das in der Kürze von etwa zwei Wochenenden beschlossene Bürgergutachten eines zufällig ausgelosten Laiengremiums.18

 

Dieses Bürgergutachten zu einem Projektvorhaben setzt nach dem Konzept von Mehr Demokratie e.V. einen nicht nur symbolischen Schlusspunkt unter die gesellschaftliche Debatte. Jedes weitere Engagement, jede erneuerte Kritik steht dann im Ruch des Querulantentums. Mit Abschluss des Bürgerrates und mit der Veröffentlichung seiner Empfehlungen läge die qualifizierte Meinung im wohlverstandenen Interesse aller Bürger vor und damit soll die Beteiligung der Bürger abgeschlossen sein.

 

Wie weit diese Annahme eines neutralen und objektiven Votums des Bürgerrates im Sinne der Gesamtbevölkerung von der Realität entfernt ist, zeigt das Beispiel des Wuppertaler Seilbahnbaus. Der Bürgerrat hat im Jahr 2016 mit rund 75 Prozent für die Fortsetzung des Seilbahnprojektes votiert.19 Bei der Bürgerbefragung im Rahmen der Europa-Wahl 2019 stimmten dann nach intensiver öffentlicher Diskussion pro oder contra Seilbahn20 beinahe eine Zweidrittelmehrheit

der Wuppertaler Wähler gegen den Seilbahnbau.21 Das Projekt wurde beendet.

 

Selbst wenn Bürgerräte zu deutlichen Ergebnissen kommen, werden sie die Auseinandersetzungen um ein Projekt nicht befrieden. Eine engagierte Bürgerinitiative, die gegen massive Verschlechterungen für die Betroffenen kämpft, wird ihre Arbeit nicht einstellen, weil sich 150 unbeteiligte Bürger von einer Phalanx von Experten haben überzeugen lassen, dass ein Projekt gut für die Gesamtbürgerschaft sei.

 

Fazit

Eine Schwäche heutiger Demokratien, dass Entscheidungen oft im kleinen Kreis, in verschwiegenen Hinterzimmern oder im Beamten- bzw. Politikergespräch mit Lobbyisten getroffen werden, wird nicht dadurch behoben, dass 150 Laien politische Entscheidungen vorprägen.

 

Wenn eventuell leicht beeinflussbare Bürger nach zwei Informationsveranstaltungen zu Repräsentanten der Gesamtbevölkerung geadelt werden, eröffnet das einen einfachen Weg für einen Investor oder einen Projektbetreiber, seine Partikularinteressen als das Gesamtinteresse auszugeben.

 

Mehr demokratischer Einfluss der Bevölkerung kann sich nur daraus ergeben, dass Entscheidungen über Gesetze wie über Projekte von den Politikern mit größtmöglicher Transparenz gefällt werden. Dazu müssten Bürger, Experten, Betroffene, aber auch die stillen und politikferneren Teile der Bevölkerung zuvor die Möglichkeit haben, ihre Interessen, Argumente und Sichtweisen auf niederschwellige Weise in die Diskussion einzubringen. Eine Zusammenstellung der Argumente, die den parlamentarischen Diskussionsprozess prägen könnten, wäre im digitalen Zeitalter leicht zu realisieren. Bei Gesetzesvorhaben und Projektplänen könnten alle eingebrachten Pro- und Contra-Argumente von einem Moderator oder einem unabhängigen parlamentarischen Dienst auf einer Website für die öffentliche und parlamentarische Debatte gesammelt und zur weiteren kontroversen Diskussion gestellt werden.

Das würde Demokratie im Sinne einer Mitsprache aller Bürger weiterbringen: Politikern würden in kurzer Zeit alle Argumente und Gegenargumente für ihre Entscheidungen übersichtlich zur Verfügung

gestellt werden. Sie wären weniger auf die zielgerichteten Vorlagen aus Ministerien und Verwaltung angewiesen.

 

Bürgerräte mit ausgelosten Teilnehmern bringen kein Mehr an Demokratie. Mehr Demokratie, die allen Bürgern eine bessere Teilhabe am politischen Prozess ermöglicht, kann nur gelingen, wenn Argumente und Diskussionen statt interessengeleiteter Meinungen die Politik prägen. Dass bei einem Bürgerrat eine Mehrheit zu einer gemeinsamen Meinung gekommen ist, kann solange nicht interessant sein, wie diese Meinung nicht öffentlich durch klare Argumente untermauert wird, die den Gegenargumenten offensichtlich überlegen sind.

 

Solche Bürgerräte bergen zudem durch die starken Einflussmöglichkeiten der Initiatoren die Gefahr, noch dem problematischsten Investitionsvorhaben den Anschein demokratischer Legitimation zu geben, und sie schränken den Spielraum bürgerschaftlichen Protestes stark ein.

 

Als Gewinner aus den Bürgerbeteiligungsprojekten „Bürgerrat“ und „Bürgergutachten" würden nur die Projektträger hervorgehen, da sie es sind, welche die entscheidenden Weichen im Meinungsbildungsprozess stellen. Investoren und Kommunen bekämen damit ein Mittel an die Hand, Projektvorhaben ungestörter als bisher durchsetzen zu können. Bürgerräte können ein leichtes Einfallstor für die Interessen von Lobbyisten sein: planbar, mit überschaubaren Kosten und mit der Garantie einer parlamentarischen Behandlung ihres Anliegens.

 

Echte profilierte Bürgerbeteiligung, also mehr demokratische Mitsprache breiterer Teile der Bevölkerung, wird mit einem solchen Ansatz nicht befördert, sondern ausgehebelt. Nur eine Politik, bei der sich nicht leicht beeinflussbare Meinungen, sondern die von allen Bürgern und Experten eingebrachten besten Argumente durchsetzen, bringt ein echtes Mehr an Demokratie.

 

 

[1] Vgl. u.a. Frankfurter Rundschau, Sauerstoff für die Demokratie: Warum Claudine Nierth für Bürgerräte kämpft, 2020,

https://www.fr.de/zukunft/storys/demokratie/warum-claudine-nierth-fuer-buergerräte-kaempft-90016122.html.

[2] https://www.mehr-demokratie.de/themen/buergerraete/

[3] s.o. [1]

[4] Mehr Demokratie e.V. Jetzt ist die Zeit: Volksentscheid, Bundesweit.

https://www.mehr-demokratie.de/aktionen/jetzt-ist-die-zeit-volksentscheid-bundesweit/ .

[5] a. a. O.

[6] Vgl. nexus Institut, Bürgergutachten zum möglichen Bau einer Seilbahn in Wuppertal 2016

https://www.nexusinstitut.de/wp-content/uploads/2019/03/Seilbahn-Wuppertal-161026web.pdf

[7] Vgl. Mehr Demokratie e.V. Bürgerrat (auf Bundesebene) 2019

https://www.buergerrat.de/buergerrat/buergerrat-auf-bundesebene/.

[8] Vgl. Mehr Demokratie e.V. Bundesweiter Bürgerrat unter Schirmherrschaft Schäubles

https://deutschlands-rolle.buergerrat.de/.

[9] Vgl. u.a. Süddeutsche Zeitung, Krafträume der Demokratie, 2019

https://www.sueddeutsche.de/politik/buergerraete-kraftraeume-der-demokratie-1.4618522.

[10] https://www.buergerrat.de/fileadmin/downloads/buergergutachten.pdf, S. 9 ff .

[11] https://www.mehr-demokratie.de/fileadmin/pdf/Buergerrat/2019-11-07_Bu__rgergutachten_Web.pdf, S. 33

[12] https://www.buergerrat.de/fileadmin/downloads/buergergutachten.pdf . S. 9

[13] s.o. [6] S. 22

[14] https://www.buergerrat.de/fileadmin/downloads/konzept-online-fokusgruppen.pdf .

[15] https://deutschlands-rolle.buergerrat.de/ueber-uns/wissenschaftliche-begleitung/unterstuetzungsgremium/.

[16] s.o. [11] S. 9

[17] Bei dem Bürgerrat zum Bau einer Seilbahn in Wuppertal bekam die Bürgerinitiative "Seilbahnfreies Wuppertal" im Rahmen der viertägigen Informationsphase 20 Minuten Vortrag plus Diskussionszeit zugestanden, ihre kritischen Aspekte den Teilnehmern vorzustellen. https://www.buergerrat.de/fileadmin/downloads/buergergutachten.pdf Seite 54f.

[18] Kritik am Bürgergutachten zum Seilbahnbau: http://manfredalberti.de/a-15-2-b%C3%BCrgergutachten-als-ausgehebelte-b%C3%BCrgerbeteiligung-kritik-des-wuppertaler-b%C3%BCrgergutachten/.

[19] s.o. [6] S. 10 

[20] Ausführliche website zur Kritik am Seilbahnbau in Wuppertal: "Seilbahnen - Geniale Lösung oder problematischer Irrweg?" http://manfredalberti.de/a-12-1-seilbahnen-%C3%BCber-st%C3%A4dten-geniale-l%C3%B6sung-oder-problematischer-irrweg/ .

[21] https://www.wuppertaler-rundschau.de/lokales/wuppertaler-lehnen-seilbahn-projekt-in-buergerabstimmung-ab_aid-39050619 .


 

 

 

 

Autor:

Manfred Alberti, Pfr. i. R., geb. 1949 in Velbert / Rhld, Studium der Ev. Theologie (Pfarramt) in Wuppertal, Göttingen, Tübingen.

Germanistik in Göttingen und Tübingen. 35 Jahre Pfarramt in Wuppertal-Sonnborn 1977 - 2012,

 

Lit.: Manfred Alberti, Vorsorgebuch, Alter - Sterben - Bestattung, Neukirchen 2015, 2016

 

Manfred Alberti, An der Piep 8 c, 42327 Wuppertal, Tel. 0152 0421 8707, 02058 87889 manfredalberti@hotmail.com

 

 

 

 

 

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