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Manfred Alberti

 

Kritische Anmerkungen zu: 08.01.2014

 

LS 2014 Vorlage 6:

Niemand nimmt sich gerne das Leben..“

 

Die Vorlage ist konzentriert auf Suizidwünsche und Suizidtendenzen bei sehr alten Menschen und bei Patienten mit unheilbar schweren Krankheiten.

 

Leider werden diese beiden Gruppen nicht deutlich unterschieden und getrennt behandelt, so dass zwei gewichtige Akzente innerhalb der sehr alten Menschen überhaupt nicht in den Blick kommen.

 

a)Lebenssatt den Tod herbeisehnen

 

Unter den alten und sehr alten Menschen befinden sich sehr viele, die „lebenssatt“ gerne sterben möchten. Sie haben sich auf den Tod eingestellt und sehnen ihn sich herbei. Den Tod empfinden sie als das natürliche Ende ihres Lebensweges. Sie sehen ihren Lebensweg mit allen Höhen und Tiefen als beendet an und möchten deshalb in Ruhe und Frieden möglichst bald sterben. Der Tod ist Hoffnung und hat keinerlei Schrecken. Sie sehen ihren Tod als Weg in Gottes Hand an und möchten diesen Weg gehen. Das Jenseits, das Reich Gottes, ist eine positive Erwartung.

Ihrem Todeswunsch haftet nichts Negatives an. Sie stehen in der Kontinuität von „lebenssatt“ Sterbenden, über die die Bibel berichtet: Abraham (Gen. 25,8), Isaak (Gen 35, 29) und Hiob (Hiob 42,17).

 

Diese biblischen Gestalten waren davor geschützt, durch medizinische Maßnahmen gegen ihren Willen am Leben erhalten zu werden. Sie erlebten, dass das Leben mit seinem auf- und absteigenden Weg von der Geburt über das Wachsen und Blühen, Krankwerden und Vergehen einem natürlichen Gesetz aller Kreaturen folgt. Wer alt und lebenssatt sterben darf, dem ist die ganze Güte dieses Weges zuteil geworden.

 

So blicken viele alte und sehr alte Menschen voller Dankbarkeit auf ein solches Leben zurück und freuen sich auf das Ende dieses Weges.

 

Von der Möglichkeit solcher Freude ist in der Vorlage nicht das Geringste zu spüren. Hier wird, wie die Überschrift schon signalisiert, jedes Ende dieses Weges unter einem negativem Vorzeichen gesehen: „Niemand nimmt sich gerne das Leben.“ Alle angeführten Gründe für den Suizidwunsch (Kap 2, S. 9 bis 11) sind ausnahmslos geprägt von negativen und defizitären Erfahrungen: Ausweglosigkeit, Verlust, Kränkungen, Schmerzen, Erkrankungen, Schwierigkeiten, Angst.

 

Dass alte, lebenssatte Menschen bewusst gerne dem Ende ihres Weges entgegensehen, kommt nicht in den Blick.

 

Das ist in einer theologischen Abhandlung ein sehr trauriges Defizit, denn diese alten Menschen haben eine Einsicht, oft in tiefem Glauben, erreicht, die man nur als Geschenk Gottes sehen kann: Leben und Sterben stehen in Gottes Hand. Und sie möchten dankbar auch das Sterben aus Gottes Hand annehmen.

 

Wenn Menschen ihnen dieses nehmen, dann begehen sie einen Eingriff in das Recht jedes alten Menschen auf seinen natürlichen Tod. Sie unterbrechen den selbstverständlichen Lauf der Natur, der jedem Menschen zusteht, wenn er es nicht selbst bewusst ausgeschlossen hat.

 

Müsste man den ärztliche Eingriff in diesen Lauf der Natur ohne den bewusst ausgedrückten Willen des Patienten nicht als „Körperverletzung“ ansehen: Dem Patienten wird sein natürlicher Lebensweg zerstört. Er wird gegen seinen Willen zum Weiterleben gezwungen. Muss nicht auch ärztliches Handeln den normalen Weg der Natur achten und darf nicht vermeintliche ärztliche Verpflichtungen über diesen normalen Naturverlauf stellen?

 

Selbstverständlich können Menschen bestimmen, dass auch in hohem Alter alles zur Erhaltung ihres Lebens getan werden soll. Ärztliches Ethos wird dann einiges tun, sicher nie alles Mögliche. Ebenso können sie durch eine Patientenverfügung den Verzicht auf jede medizinische Behandlung bekunden.

 

Aber jeder Seelsorger macht die Erfahrung, dass die allermeisten Menschen im hohen Alter jenseits der neunzig Lebensjahre nur den Wunsch nach einem „gnädigen“ Tod, d.h. schnellen, schmerzlosen Sterben ohne lange Leidenszeit haben. Die allermeisten Menschen sind, selbst wenn sie sich noch bester Gesundheit erfreuen dürfen, „lebenssatt“ und möchten nach dem Ende der gesunden Zeit keinesfalls eine längere Lebenszeit durch Pflegebedürftigkeit, Bettlägerigkeit, intensive Heilbehandlungen etc erkaufen.

 

Wenn die Vorlage solchen Menschen unterstellt, sie hätten „Autonomiestreben bis zuletzt“, dann sehe ich darin eine völlige Verkennung der Wirklichkeit: Sie möchten nicht „möglichst selbstbestimmt“ autonom entscheiden, sondern lebenssatt ihr natürliches Recht auf ihren eigenen Tod einfordern.

 

Es ist eine Tragik unserer Zeit, dass vermeintliches ärztliches Ethos, medizinische Möglichkeiten und wirtschaftliche Beweggründe einer Krankenhaus- und Pflegeindustrie solches Recht auf einen natürlichen Tod ignorieren.

 

Niemand wird ernsthaft behaupten wollen, dass die jahrelange Lebenserhaltung eines neunzig- oder hundertjährigen durch künstliche Ernährung etc dem vermutlichen Willen des dementen oder im Koma liegenden Patienten entsprechen kann. Selbst wenn keine Patientenverfügung vorliegt, müsste ein solches Leiden im Interesse des Patienten schnell beendet werden.

 

Hierbei wäre auch zu bedenken, dass das Abfassen einer Patientenverfügung für breite Teile unserer Bevölkerung nicht im Bereich des Leistbaren liegt.

 

(Aufgrund der vielen Willensäusserungen älterer Menschen sollte eine gesellschaftliche Diskussion darüber entfacht werden, dass ab neunzig Jahren das Prinzip der Patientenverfügung umgedreht wird: Nur wer deutlich festgelegt hat oder es deutlich äußert, dass auch bei dementen und komatösen Zuständen sein Leben auf jeden Fall so lange wie möglich erhalten werden soll, bei dem werden noch lebensverlängernde ärztliche oder pflegerische Behandlungen durchgeführt.)

 

Die christlichen Kirchen sollten froh und dankbar sein über jeden Menschen, der im Alter zu der Einsicht und zu dem Glauben kommt, dass er sein Leben gerne lebenssatt und dankbar abschließen möchte.Diese Einsicht ist ein großes Geschenk und Menschen mit diesem Willen verdienen es nicht, dass ihre Einsicht als so defizitär angesehen und negativ bewertet wird, wie es diese Vorlage in Kapitel 2 macht.

 

Was bei Suizidgedanken in jüngerem Alter zutreffen mag, trifft auf viele – fast alle - sehr alten Menschen nicht zu. Deshalb ist diese Vorlage auch keine seelsorgliche Hilfe: sie trifft die Stimmungslage der meisten alten Menschen nicht. Statt dass Seelsorger positiv die Einsicht eines lebenssatten Abschiednehmens würdigen können, werden sie hier zu einem Schlingerkurs in Bezug auf Suizidgedanken genötigt.

 

 

b) Sterbefasten als eigenverantworteter Weg zum Tod

(Suizid durch Verweigerung der Nahrungsaufnahme)

 

Glücklicherweise sind viele sehr alte Menschen schlauer als diese Vorlage, die mit keinem einzigen Wort erwähnt, was viele alte lebenssatte Menschen, die sterben möchten, schon heute machen: Sie verweigern Essen und Trinken – als „Sterbefasten“ in der wissenschaftlichen Diskussion bekannt.

 

Gerade nach hohen Festen und persönlichen Ereignissen, auf die sie hingelebt haben und für die sie alle Kräfte mobilisiert haben, kommen sie bewusst oder unbewusst zu der Einsicht, dass jetzt ihr Leben zu ende gehen soll: Die Kraft bis zu einem nächsten Ereignis können und wollen sie nicht mehr aufbringen. Sie verweigern die Essensaufnahme.

 

Als deutliches Zeichen, Sterben zu wollen, wäre es verhängnisvoll, wenn diese Absicht durch künstliche Ernährung durchkreuzt werden würde: Hier verdient der deutliche Wille des alten Menschen Respekt: Seelsorger, Pflegekräfte und Mediziner sollten ein solches Lebensende positiv sehen und lindernd und helfend begleiten.

 

Leider steht in der Vorlage zu diesem häufig beobachteten Phänomen kein Wort.

 

(Lit: Boudewijn Chabot, Christian Walther, Ausweg am Lebensende, Selbstbestimmtes Sterben durch freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken, 3.Auflage 2012, Reinhard-Verlag München)

 

 

c) Der Wert menschlichen Lebens

 

Problematisch empfinde ich an dieser Vorlage noch etwas anderes:

Der Wert eines jeden menschlichen Lebens wird, bewusst auch gegen den Willen des über den Suizid nachdenkenden Menschen, sehr hoch eingeschätzt (Z.B. S. 14 f). „Die evangelische Antwort...ist, sich nachdrücklich für einen Ausbau der Palliativversorgung... einzusetzen.“ (S. 15) Leben soll auch gegen den deutlichen Wunsch des schwer kranken Menschen erhalten werden.

 

Diese ethische Maxime erfordert hohe Kosten für die von dem Betroffenen nicht gewollte Behandlung und Pflege, die sich möglicherweise Monate oder Jahre hinzieht.

 

Wer das dahinter stehende Menschenbild kontrastiert mit dem Wert, dem einem Menschenleben in Afrika oder dem Leben eines Flüchtlings beigemessen wird, der wird arge Zweifel bekommen müssen, ob hier in christlicher -ökumenischer, weltumspannender- Sicht noch die richtigen Dimensionen gelten: Das Erhalten des Lebens eines Menschen, der alt und krank, vielleicht dement oder im Koma liegend, gerne sterben möchte, wird von der Gesellschaft (oder der Familie) täglich mit einem Betrag bezahlte, der einhundert oder zweihundert Menschen in der Dritten Welt das Überleben sichern könnte.

 

Ist das mit einem christlichen Menschenbild wirklich zu vereinbaren? Sollte das Leben eines sterbewilligen greisen Deutschen wichtiger sein als das Leben von einhundert jungen hungernden Kindern oder Erwachsenen in der Dritten Welt?

 

Auch wenn das heute kein gesellschaftliches Thema ist: Ich fürchte, dass unsere Enkel uns dieses einlinige Denken einmal so zum Vorwurf machen könnten, wie wir unseren Eltern die blinden Verstrickungen in die Lebensbewertungen des Dritten Reiches.

 

 

d) Konsequenzen

 

Richtige Antworten habe ich auch nicht. Aber Kirche sollte sich nicht mit so einseitigen und verkürzenden Antworten zufrieden geben, wie sie diese Vorlage in Übereinstimmung mit Vorlagen europäischer Kirchen bietet.

 

Zumindestens eine positive Grundhaltung zum Sterbewunsch sehr alter, lebenssatter Menschen halte ich für biblisch gegeben und für seelsorglich notwendig. Das gänzliche Verschweigen des häufig vorkommenden Sterbens durch Essensverweigerung und das Nichtakzeptieren des lebenssatten Wunsches nach baldigem Sterben als gesunder, im Glauben begründbarer Haltung sollten Anlass genug sein, diese Vorlage gründlich neu zu erarbeiten.

 

Der Situation sehr alter Menschen wird diese Vorlage nicht gerecht. Schon die Überschrift entspricht nicht der Sichtweise älterer Menschen.

 

Vielleicht ist diese Vermischung von Suizidwünschen jüngerer Menschen mit schweren unheilbaren Krankheiten mit denen von sehr alten lebenssatten Menschen in einer gemeinsamen Vorlage nicht leistbar und nicht sinnvoll.

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